AKTUELLE TINNITUS-THERAPIEN IM ÜBERBLICK

Chronischer Tinnitus lässt sich nicht einfach “ausschalten”. Allerdings können Betroffene lernen, ihn neu zu bewerten. Sie nehmen ihn dann nicht mehr so intensiv wahr und die negativen, tinnitusbezogenen Gedanken und Gefühle nehmen ab.

Die wichtigste Säule jeder Therapie ist die individuelle Beratung und psychoedukative Aufklärung (Counseling). Patientinnen und Patienten steht dieses Angebot während des gesamten Therapiezeitraums zur Verfügung. Aufgezeigt wird ihnen, welche Ursachen, Umstände und Verkettungen zu Tinnitus und gegebenenfalls seiner Verstärkung führen. Erst mit diesem Verständnis und Wissen können sie ihre eigene Situation neu bewerten, Ängste abbauen, den Leidensdruck verringern – und somit die Basis für weitere Maßnahmen legen.

Die Tinnitus-Behandlung verspricht keine Heilung. Sie kann aber dazu beitragen, die Lebensqualität der Patienten entscheidend zu verbessern. Ein Erfolgsfaktor ist, dass Betroffene nicht länger passiv Leidende sind, sondern aktiv etwas zur eigenen Gesundung oder Gesundheitsverbesserung beitragen können. Doch was so einfach klingt, erfordert neben großem Engagement vor allem viel Einsicht und noch mehr Geduld: Üblicherweise dauert eine Tinnitus-Therapie zwölf bis 24 Monate. In jedem Fall ist der Erfolg eine Teamleistung, bei der Ärzt:innen, Psycholog:innen, Physiotherapeut:innen, Orthopäd:innen, Neurolog:innen und Hörgeräteakustiker:innen interdisziplinär zusammenarbeiten – immer aktiv unterstützt durch den Betroffenen selbst. Ziel ist die Gewöhnung an den Tinnitus (Habituation) und seine Beherrschung im Alltag. Glücklicherweise funktioniert diese Verdrängung aus dem Bewusstsein unabhängig von der möglichen Ursache.

Im Folgenden stellen wir einige Therapien vor, die nach der S3 Leitlinie Chronischer Tinnitus, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V., Stand September 2021, als wirksame Behandlungsmethoden bei Tinnitus eingestuft wurden. Die Leitlinienkoordination 2019 oblag Prof. Dr. Birgit Mazurek, Vorstandsvorsitzende der Stiftung, und Prof. Dr. Gerhard Hesse, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats.

Verhaltenstherapie_1
Behavioraltherapy

Kein Tinnitus gleicht dem anderen. Deshalb muss für jede:n Betroffene:n ein geeigneter Therapieweg gefunden werden. Ziel jeder Behandlung ist es, dass die Patient:innen lästige Geräusche gar nicht beziehungsweise nicht mehr so stark und störend wahrnehmen. Spezialist:innen sprechen in diesem Zusammenhang von der “Abkoppelung unerwünschter Signale”. Diese Abkoppelung kann im chronischen Stadium aber bislang nicht durch pharmakologische Intervention herbeigeführt werden. Erforderlich ist vielmehr ein ganzheitlicher Ansatz, der eine hohe therapeutische Fachkompetenz der Behandelnden erfordert.

Anerkannte, psycho-physiologische Therapieverfahren bei chronischem Tinnitus werden ambulant und stationär angewendet. Voraussetzung ist allerdings, dass die Patient:innen offen genug sind, sich auf das diesen Therapien zugrundeliegende Modell einzulassen und kontinuierlich mitarbeiten.

Stress, innere Anspannung, verdeckte Konflikte, Partnerschaftsprobleme und depressive Verstimmungen sind häufig Begleiterscheinungen oder manchmal sogar ursächliche Gründe für den „Teufelskreis Tinnitus“. Das aktive psychologische Einzel- oder Gruppengespräch ermöglicht es, Zusammenhänge aufzudecken, stressverstärkende Gewohnheiten zu erkennen, geräuschbezogene Ängste zu identifizieren und darauf basierend persönliche Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Quelle:
Deutsche Gesellschaft f. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (Hrsg.), S 3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register-Nr. 017/064, Sept. 2021,, S. 26 ff.: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
Hörgerät_Tinnitus

Chronischer Tinnitus wird häufig von einem Hörverlust begleitet. Eine vielversprechende Behandlungsoption ist in diesen Fällen der Einsatz von Hörgeräten. Neue Studien belegen gute Effekte auch bei isoliertem Hochtonverlust und hochfrequentem Tinnitus.

Diese können dazu beitragen, den Tinnitus-Schweregrad zu reduzieren, indem sie den Hörverlust ausgleichen und die Wahrnehmung von Umgebungsgeräuschen reduzieren, wodurch sich die Hörleistung wieder verbessern kann und der Tinnitus in den Hintergrund gedrängt wird.

Wichtig ist in jedem Fall eine korrekte Anpassung der Hörgeräte durch qualifizierte Hörgeräteakustiker:innen oder Audiolog:innen.

Quellen:
1 Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (Hrsg.), S 3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register-Nr. 017/064, Sept. 2021,, Sept. 2021, S. 18 ff.: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
2 Yakunina, N., et al., Tinnitus Suppression Effect of Hearing Aids in Patients With High-frequency Hearing Loss: A Randomized Double-blind Controlled Trial. Otology & Neurotology, 40(7), Aug. 2019, S. 865-871: https://doi.org/10.1097/mao.0000000000002315
Cochlear_1
Cochlear_3

Für hochgradig schwerhörige und ertaubte, auch einseitig ertaubte Menschen mit chronischem Tinnitus kann die Behandlung mit Cochlea-Implantaten Verbesserung bringen. Cochlea-Implantate sind elektronische Geräte, die den Hörnerv direkt stimulieren und so das Hörvermögen wiederherstellen können.

Eine Studie, die in der Zeitschrift „Otology & Neurotology“ (siehe Quelle 2) veröffentlicht wurde, untersuchte die Wirksamkeit von Cochlea-Implantaten bei Tinnitus-Patient:innen mit schwerem Hörverlust. Die Ergebnisse zeigten eine signifikante Reduktion des Tinnitus-Schweregrads sowie eine Verbesserung der Hörleistung und der Lebensqualität bei den Teilnehmenden.

Der positive Effekt eines Cochlea-Implantates auf den Tinnitus scheint altersunabhängig zu sein, d. h. auch Patient:innen über 80 Jahre können bei Tinnitus und Schwerhörigkeit von einer CI-Implantation profitieren.

Cochlea-Implantate sind jedoch nicht für jede:n Betroffene:n geeignet. Die Implantation erfordert einen chirurgischen Eingriff und kann mit Risiken und Komplikationen verbunden sein. Außerdem können sie teuer sein und werden von vielen Versicherungen nicht vollständig abgedeckt.

Wenn Sie unter Tinnitus und Hörverlust leiden, sprechen Sie mit Ihrem Arzt beziehungsweise Ihrer Ärztin über die Möglichkeiten einer Cochlea-Implantation.

Quellen:
1 Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (Hrsg.), S 3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register-Nr. 017/064, Sept. 2021, S. 21 ff.: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
2 Yuen, Erick; Ma, Cheng; Nguyen, Shaun A.; Meyer, Ted A.; Lambert, Paul R., The Effect of Cochlear Implantation on Tinnitus and Quality of Life: A Systematic Review and Meta-analysis, Otology & Neurotology 42(8), Sept. 2021, S. 1113-1122: https://doi.org/10.1097/mao.0000000000003172
Aufmerksamkeitsablenkung_Tinnitus

Ein Aufmerksamkeits- und Hörtraining sensibilisiert Sie für die Geräuschvielfalt unserer Umwelt und vermittelt Strategien für ein neues Hörverhalten, zum Beispiel in geräuschangereicherten Umgebungen. Indem die Betroffenen lernen, nicht weiter “nach innen zu hören”, sondern sich wieder aufmerksam nach außen zu wenden, werden lästige Geräusche nicht beziehungsweise nicht mehr so stark und störend wahrgenommen.

Konkret werden mit gezielten Übungen Fähigkeiten der zentralen Hörverarbeitung wie Richtungshören, Fokussierung und Differenzierung im Störlärm mit und ohne Hörgeräte mit dem Ziel geschult, den Tinnitus zu überhören.

Auch ein sogenanntes auditorisches Diskriminationstraining (ADT), bei dem Tinnitus-Patient:innen Übungen zur Frequenzunterscheidung machen müssen, verbessert die Tinnitus-Belastung.

Quellen:
1 Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (Hrsg.), S 3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register-Nr. 017/064, Sept. 2021, S. 24 ff.: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
2 Hoare, D.; P. Stacey; D. Hall, The Efficacy of Auditory Perceptual Training for Tinnitus: A Systematic Review, Ann Behav Med, 40(3), Dec. 2010, S. 313-324: https://doi.org/10.1007%2Fs12160-010-9213-5
3 Hesse, G.; H. Schaaf, Manual der Hörtherapie, 2012, Stuttgart, Thieme: https://eref.thieme.de/ebooks/1112960#/ebook_1112960_SL45948282
Entspannung_Tinnitus

Integraler Bestandteil der Tinnitus-Therapie sind Entspannungstechniken. Sie helfen beim Stressmanagement und erleichtern die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation: Die Patient:innen werden fit(ter) für die Belastungen des Alltags, die tinnitusverstärkenden, somatischen Anspannungskreisläufe nehmen ab und ihr Leben gewinnt wieder an Qualität.

Eine manualmedizinische und physiotherapeutische Therapie sollten Patient:innen mit chronischem Tinnitus wahrnehmen, wenn bei ihnen Modulationen des Tinnitus durch Veränderungen der Halswirbelsäule oder des Kauapparates diagnostiziert wurden.

Quelle:
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (Hrsg.), S 3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register-Nr. 017/064, Sept. 2021, S. 59/60: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
Selbsthilfe
Selfhelp

Selbsthilfe ist ein wichtiger Bestandteil bei der Bewältigung von chronischem Tinnitus. Sie sollte allerdings nicht für sich alleinstehen, sondern vielmehr begleitend zu einer ganzheitlich ausgerichteten Therapie wahrgenommen werden.

Wichtig ist: Tinnitus kann schnell zu sozialer Isolation führen und das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen. Die Unterstützung durch den Kontakt und den Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe, mit Freunden oder der Familie hilft, dem entgegenzuwirken.

Selbsthilfetreffen werden in Präsenz und zunehmend mehr auch als digitale Gesprächsrunde angeboten.

Quellen:
1 Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (Hrsg.), S 3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Register-Nr. 017/064, Sept. 2021, S. 62 ff.: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064
2 Kofahl, C., Associations of collective self-help activity, health literacy and quality of life in patients with tinnitus, Patient Educ Couns, 101(12), Dec. 2018, S. 2170-2178: https://doi.org/10.1016/j.pec.2018.07.001